Ein Gastbeitrag von Maria Wagner
Atomkraftwerk Saporischschja. © Ralf1969, CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) via Wikimedia Commons
Bregenz. In der Nacht zum Freitag (4. März 2022) traf bei einem Angriff des russischen Militärs ein Geschoß das Gebäude eines Schulungszentrums auf dem Areal der AKW-Anlage Saporischschja und verursachte einen Brand, der aber gelöscht werden konnte. Der Reaktor selbst war davon nicht betroffen und nicht gefährdet.
Der Kraftwerkskomplex von Saporischschja, dem größten Atomkraftwerk Europas, umfasst sechs Reaktorblöcke. Davon ist derzeit nur einer am Netz auf einem Leistungsniveau von 60% der Maximalleistung. Die übrigen abgeschalteten Reaktorblöcke befinden sich im Abschaltbetrieb: Die Brennelemente müssen dauerhaft gekühlt werden. Wenngleich das Gelände des Kraftwerks von russischen Truppen umstellt oder besetzt ist, wird der Betrieb vom regulären ukrainischen Fachpersonal normal weitergeführt. Es herrscht derzeit keine Sicherheitswarnung.
Laut Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Mariano Rafael Grossi, sind keine radioaktiven Substanzen und keine Strahlung aus der angegriffenen Atomanlage ausgetreten. Die IAEA steht in ständigem Kontakt mit der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde und der Anlage von Saporischschja. Alle radiologischen Messwerte befinden sich weiterhin im normalen Bereich. Die IAEA wird über eine Reihe von Kontakten auf technischer und diplomatischer Ebene ständig über die Lage informiert. Grossi bot an, persönlich nach Saporischschja zu reisen, um die Sicherheit der Anlage vor Ort zu prüfen.
Die UKRAINE ist auf Atomkraft angewiesen
Seit der Besetzung der Kohlenreviere des Donbass durch russische Separatisten ist die Ukraine für ihre Elektrizitätsversorgung stark auf die Nutzung von Kernenergie angewiesen, die mehr als die Hälfte des Strombedarfs deckt. Von den 15 einzelnen Nuklearreaktoren standen bis zum russischen Angriff neun in regulärem Betrieb.
Wenn durch die Kämpfe die Stromzufuhr zu einem Nuklearkraftwerk abgeschnitten wird, sodass die unentbehrlichen Kühlsysteme mit weniger zuverlässigen Dieselgeneratoren aufrecht erhalten werden müssten, könnte es zu einer Störung und im äußersten Fall zu einem Austritt von Radioaktivität wie in Fukushima kommen. Bislang ist ein solcher Ernstfall in der Ukraine nicht eingetreten. – Die Sicherheitsanforderungen für den Betrieb eines AKW sind sehr hoch; die Reaktorblöcke müssen schweren Erdbeben und Unglücken wie Flugzeugabstürzen standhalten können. Trotz der erforderlichen baulichen Robustheit ist ein vollständiger Schutz gegen schwere militärische Angriffe nicht möglich. Ein gezielter Angriff auf ein AKW gilt international als Kriegsverbrechen.
Ein zweites tschernobyl ist technisch ausgeschlossen
Beim bisher größten atomaren Unfall, der Explosion eines Reaktors im AKW Tschernobyl Ende April 1986, starben viele Menschen an direkten und indirekten Folgen der freigesetzten Strahlung. Ein großes Gebiet wurde radioaktiv verseucht. Beim Unglücksreaktor handelte es sich allerdings um einen anderen Reaktorbautyp als in Saporischschja, nämlich um einen mit Graphit moderierten Reaktor. Das brennende Graphit erzeugte große Hitze, machte Löscharbeiten extrem schwierig und führte dazu, dass Radioaktivität in hohe Luftschichten getragen wurde und sich so – entsprechend der Windrichtungen und der Wetterlage – über weite Regionen Europas verbreitete.
Die aktuell in der Ukraine betriebenen AKWs nutzen Druckwasserreaktoren, bei denen das Szenario von Tschernobyl aus physikalischen und technischen Prinzipien nicht auftreten kann. Der entscheidende Faktor bei einem Unfall ist bei ihnen die Kühlung der Brennstäbe. Die Reaktorkerne der ukrainischen AKWS sind mit redundanter Kühlung ausgestattet. Trotz des russischen Angriffs ist es in Saporischschja zu keinem nuklearen Unfall gekommen; es trat keine Radioaktivität aus. Somit besteht für die angrenzenden Nachbarstaaten derzeit keine Gefahr einer zusätzlichen Strahlenexposition. Selbst wenn ein Reaktorblock in Saporischschja durch Dauerbeschuss beschädigt würde, wären die Nachbarstaaten nicht automatisch einer besonderen Gefahr ausgesetzt, da die Belastung durch radioaktiven Fallout regional begrenzt wäre. Sollte es dennoch zu einem (derzeit hypothetischen) Katastrophenfall kommen und Österreich oder Deutschland betreffen, sollten aktuelle Informationen beim Bundesamt für Strahlenschutz abgerufen und dessen Ratschläge befolgt werden.
Sr. Maria Wagner FSO ist katholische Ordensfrau und Kernphysikerin. Sie war viele Jahre für die Internationale Atomaufsichtsbehörde IAEA tätig. Heute lebt sie in Bregenz/Österreich.